Wer sich öffnet, findet Hilfe
„Alkoholsucht – ignoriert und verdrängt“: Expertenrunde diskutiert wichtiges Thema im Oste-Hotel
Artikel Bremervörder Zeitung vom 28.6.2023 von Frauke Siems
Lange hat sie darauf hingearbeitet, organisiert und koordiniert: Nun hat am Montagabend im Oste-Hotel
in Bremervörde auf Sandra Frickes Initiative hin eine Podiumsdiskussion zu einem Thema stattgefunden, das ihr sehr am Herzen liegt: „Alkoholsucht – ignoriert und verdrängt.“
Fricke hat ihre Abhängigkeit 2022 öffentlich gemacht. Sie lebt nach vielen Jahren Abstinenz und einem Rückfall in der Corona-Pandemie seit gut zwei Jahren wieder ohne Alkohol. Mit ihr diskutierten Sozialpädagogin Birgit Flemming, Leiterin der Sucht- und Therapiehilfe Rotenburg, Dr. Marc Hanefeld, Facharzt für Allgemeinmedizin in Bremervörde, Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Ärztlicher Direktor der Therapiehilfe Hamburg und Geschäftsführer des Therapiehilfeverbundes, sowie der 24 Jahre alte Timo, der nach sechs Jahren Konsum seit einigen Monaten ohne Drogen lebt.
Vor den rund 30 Zuhörern im Saal erläuterte das Quintett, warum es wichtig ist, über Alkoholmissbrauch
und -abhängigkeit in einen öffentlichen Diskurs zu treten und vor Ort ein Netzwerk für eine gute therapeutische Versorgung zu schaffen. Dass Alkohol als legale Droge gesellschaftlich so akzeptiert und etabliert sei, mache den Betroffenen das Trinken umso leichter, war man sich einig.
Moderiert wurde die Veranstaltung von Unternehmer, Redner und Buchautor Boris Thomas.
Alkoholismus bewege die gesamte Gesellschaft und liege doch „unter dem Radar“, sagte
Thomas. Er sprach Fricke und dem jüngsten Gast der Runde für ihren Mut zum öffentlichen
Bekenntnis ihrer Sucht Hochachtung aus. Beide haben mit ihrem Schritt in die Öffentlichkeit gute Erfahrungen gemacht.
„Das Drama im Kopf ist größer als das Drama da draußen“, brachte Thomas es auf den Punkt.
Der 24-jährige Timo hat als Schüler mit dem Kiffen begonnen, bald kamen Ecstasy und auch Kokain dazu. „Von den Leuten, von denen du Cannabis kriegst, bekommst du auch andere
Sachen“, erklärte er. Er sei neugierig gewesen, in Musikvideos sei alles immer lustig und toll. Mit Birgit Flemming schaffte Timo den Ausstieg. Die Sozialpädagogin vermittelt „Wege in die Gesundheit“, wie sie selbst es nannte. „Jede einzelne Geschichte in die Sucht ist so individuell wie die wieder heraus“, weiß sie aus der Berufserfahrung.
Auch Angehörige sollten sich Hilfe holen, um einen Umgang mit der Abhängigkeit des Partners, Kindes oder eines anderen Nahestehenden zu finden, empfahl Flemming. Den Betroffenen „nicht fallen lassen,
aber loslassen“, darum gehe es. Marc Hanefeld erklärte, Alkohol sei selten das Hauptthema, das Patienten in die Sprechstunde führe. „Das wäre das Ziel: mehr Möglichkeiten zu schaffen, das anzusprechen.“ Bislang brauche es meist ein gravierendes Ereignis, „damit es Thema wird“. Ärzte und Praxis-Personal
seien zur Verschwiegenheit verpflichtet. Die Sorge, Informationen könnten weitergetragen
werden, sei schon aus arbeitsrechtlichen Gründen völlig unbegründet.
„Wer Hilfe sucht, bekommt mehr als er oder sie es je erwartet hätte“, sagte der Allgemeinmediziner.
Dr. Tabatabei berichtete, dass „Konsumstörungen“, wie die Fachwelt es nennt, seit 1968 als psychische Erkrankung anerkannt seien. Gleichwohl hielten erschreckend viele Menschen Alkoholabhängigkeit noch immer für selbst verschuldet. Dass laut jüngerer Forschung auch biochemische Zusammenhänge
im Gehirn bei der Entstehung von Sucht eine wichtige Rolle spielen, kam in der Diskussion nicht zur Sprache, wohl aber die Tatsache, dass Kinder aus Suchtfamilien ein erhöhtes Risiko haben, selbst abhängig zu werden. „Wir sind Vorbilder für unsere Kinder“, warnte und mahnte
Sandra Fricke. Ob sie nie wieder trinken dürfe, fragte Thomas die 50-jährige Bremervörderin. „Ich
darf schon, nur was daraus entsteht, weiß ich inzwischen.“
Mit Blick auf den öffentlichen Diskurs sprach Fricke von einem „guten Anfang“. Das einzige,
das sie bedauerte: Bei der Live-Übertragung der Veranstaltung via YouTube gab es Probleme
mit der Leitung. „Von der Übertragung sind leider gerade einmal 18 Minuten auf meinem
Kanal angekommen und das mit einer sehr wackeligen Übertragung. Technisch waren wir sehr
gut ausgestattet und vorbereitet, auch die vorherigen Tests sind gut gelaufen. Wir waren voller
Vorfreude“, betont Fricke. Kurz nachdem die Veranstaltung starten
sollte, brach das Netz zusammen. Leider hat es sich während der gesamten Veranstaltung nicht stabilisiert. Das bedauern wir sehr.“