Ich wollte wieder frei sein
Sandra Fricke spricht über ihr altes Leben mit und das neue Leben ohne Alkohol
BZ-Serie „Alkoholmissbrauch und seine Folgen“ – Heute Teil 5 – Bremervörderin berichtet über Krisenzeiten und ihren Weg aus der Sucht
VON FRAUKE SIEMS
Bremervörde. Alkoholmissbrauch und seine weitreichenden Folgen sind Thema einer
aktuellen BZ-Serie. Die Bremervörderin Sandra Fricke (50) hat die Reihe in Kooperation
mit der Fachstelle Sucht angestoßen. Fricke steht offen zu ihrer Alkoholerkrankung. In einem Interview mit BZ-Redakteurin Frauke Siems sprach sie über ihr Leben mit und das neue Leben ohne Alkohol.
Frau Fricke, Sie gehen mit Ihrer Alkoholsucht offen umund leben nach Jahren der Abstinenz und
einem Rückfall imCorona-Lockdown seit zwei Jahren wieder ohne Alkohol.Wie geht es Ihnen?
Mir geht es blendend. Körperlich bin ich topfit, dafür bin ich sehr dankbar und auch mental geht es mir sehr gut. Vieles, was mich belastet hat, existiert nicht mehr beziehungsweise ich gehe mit vielem anders um. Das allerdings ist nur möglich, weil ich nicht konsumiere.
Wie sah Ihr Leben mit Alkohol aus? Wann wurde aus problematischemKonsumSucht?
Wir reden von der Zeit vor 2006: Einen Tag oder Monat kann ich nicht nennen. Allerdings kann ich mich gut erinnern, wie sich alles hochgeschraubt hat: Privates ist nicht immer rosarot und beruflich steckte ich in sehr großen Herausforderungen. Es war so leicht, abends beim Essengehen in Begleitung eine Flasche Wein zu trinken oder am Wochenende „Dampf“ abzulassen und mehr als „einen über den Durst“
zu trinken. Und wenn es zu viel war, hieß es am Montag, dass das Wochenende „anstrengend“ war.
“Bei den meisten entsteht erst Handlungsdruck, wenn der Schmerz groß ist: Gesundheitliche Probleme, Schwierigkeiten im Beruf oder in der Familie, wenn Konsequenzen drohen.“
Sandra Fricke
Ob Geburtstag, Karten spielen, Schützen- oder Stadtfest: Anlässe fanden sich immer. Aus Trauer, Sorgen und Ängsten fing ich irgendwann an, auch abends für mich alleine eine Flasche Wein zu trinken, auch mal zwei. Trotz besseren Wissens glaubte ich, besser schlafen zu können. Das Gegenteil war der Fall: Schnell einschlafen, nur um dann mitten in der Nacht aufzuwachen und dem Gedankenkarussell ausgeliefert
zu sein. Krasser wurde es, als ich in den Außendienst wechselte und eigentlich nur noch im Auto unterwegs war. Viele Zeiten alleine im Hotelzimmer, immer unter Strom, 24/7 erreichbar. Den Schein nach außen zu waren, ging irgendwie, das hatte ich von klein auf gelernt.
Gab es vor Ihrer ersten Therapie und bei IhremRückfall vor zwei Jahren einen konkreten Punkt,
der Sie veranlasste, sich Hilfe zu holen?
Ich konnte beziehungsweise wollte einfach nicht mehr. Ich bat eine Freundin um Unterstützung
und wir sind zusammen zu meinem Hausarzt. Damit nahm alles seinen Lauf. Nach der Entgiftung lebte ich meinen gewohnten Alltag, bis ich Ende November einen Platz in der Langzeittherapie in der Nähe
von Hamburg bekam. Damals war ich drei Monate in der Klinik, was nicht auffiel, weil ich ja sowieso immer unterwegs war. Mein Rückfall zeichnete sich bereits vor Corona ab. Die Schwierigkeiten spitzten sich zu. Drei Todesfälle, zum Teil aus meinem engsten Kreis, setzten mir sehr zu, ich fühlte mich gefangen
und wusste keinen Ausweg. Fatalerweise hatte ich vorher bereits begonnen, ab und an ein „Gläschen“ Wein zu trinken mit der Illusion, ich sei ja gar nicht süchtig, denn sonst wäre ich bei meinem alten Trinkverhalten. Mein Konsum stieg.
Als dann Corona kam, Homeoffice et cetera, war es endgültig zu spät. Als ich es mit der Angst bekam, körperlich krank zu sein/werden, vertraute ich mich einer Heilpraktikerin an, die mir die Empfehlung für ein Online-Forum gab und ich sprach mit meinem Hausarzt.
Von dem Moment an rief ich stündlich in Rotenburg an und bettelte regelrecht um einen Platz für den qualifizierten Entzug. Ich wollte wieder frei sein.
Als in einem Gespräch mein damaliger Vorgesetzter mir seine absolute Hilfe anbot, aber er müsse wissen, wofür, war es, als ob ein Damm brach: Alle Mauern,
die ich im Laufe der Zeit um mich herum aufgebaut hatte, brachen ein, eine große Last fiel weg. Und ich war sehr froh sagen zu können, dass ich bereits vor diesem Gespräch begonnen hatte, mir Hilfe zu organisieren.
Was passierte in der Therapie? Wer und was hat Ihnen geholfen?
Mein Dreigestirn bestand und besteht immer noch. Zum einen ist es das kostenlose und anonyme
Online-Forum „Alkohol adé“ von Gaby und Bernd Guzek. Von Anfang an bekam ich dort Unterstützung von Menschen, die genau wissen, was mit mir los war und wie es in mir aussah. Die Erkenntnis, nicht alleine mit meinen Baustellen zu sein, hat mir sehr gut getan. Gaby Guzek als Moderatorin in diesem Forum hat die richtigen Fragen gestellt und war meine Mentorin; Ideengeberin, Unterstützerin, Sober-Body, genauso wie die vielen anderen Forumsmitglieder, die teilweise etwas weiter waren oder auch genauso weit wie ich.
Guzeks Anti-Alkohol-Konzept basiert einerseits auf dem Verstehen der Sucht, warum, was und wie abläuft und darauf, dass durch das Nervengift Alkohol die Hirnchemie komplett durcheinander gerät. Alle Vitamine, Neurotransmitter, Aminosäuren sind komplett heruntergefahren, aber durch kurmäßige Zufuhr lässt sich vieles körperlicher Natur wieder geradebiegen. Zusätzlich mit der großartigen Gemeinschaft der anonymen Forumsmitglieder, die alles oder ähnlich durch haben oder dabei sind, wurde ich super aufgenommen und unterstützt – zu fast jeder Tages- und Nachtzeit. Oft habe ich gefühlt stundenlang geschrieben.
Der zweite wichtige Baustein war für mich die Sucht- und Therapiehilfe Rotenburg mit ihrem Standort in Bremervörde. Von dem damaligen Mitarbeiter wurde ich hervorragend unterstützt. Gemeinsam haben wir den für mich richtigen weiteren Weg besprochen. Auch das Zusammenspiel mit meinem Hausarzt, Dr. Benjamin Braun, war für mich sehr wichtig.
Schlussendlich bin ich in der Tages- Fachklinik „Change“ in Bremen gelandet. Für mich mein Glück, denn dort fand ich eine für mich passende Therapie und einen hervorragenden Therapeuten.
In der Therapie lautet die Fragestellung: Warum und wieso. Wenn die Triggerpunkte klar sind, kann ich
an die Ursachen gehen. Das hat mit der Bereitschaft zur Selbstreflektion zu tun. Veränderungen können unangenehm sein. Es kann helfen, bei Mitpatienten zuzuhören, von ihnen zu lernen, positiv wie negativ. Eine Therapie kann nur so gut sein, wie Du selber bereit bist zu investieren, neben guten Therapeuten.
Und das eigene Wollen, ohne geht es nicht. Begegnung mit dem eigenen Ich kann möglich sein. Für mich persönlich ein sehr wertvoller Weg und ich wünsche es allen Menschen von Herzen, diese Erfahrung selber
zu machen.
Wie finden Sie Ihr Leben nüchtern?
Bunt! Im Zuge meines Konsums rutschte ich in eine sehr graue und trostlose depressive Phase hinein und ich bin heute sehr froh, das nicht mehr erleben zu müssen. Ich fühle mich frei, ich bin kein Sklave meines Suchtmittels und ich gestalte mein Leben so, dass ich Freude habe, es leben zu dürfen. Ein wenig wie
Pippi Langstrumpf. Natürlich gibt es Dinge wie zum Beispiel Job oder Familie, die kann sich
keiner wegdenken. Aber die gedankliche Herangehensweise verändert viel. Das ist Arbeit, denn ohne persönliche Veränderung funktioniert es nicht.
Gibt es Situationen, in denen Sie Verlangen haben, wieder zu trinken? Und wenn ja, was hilft Ihnen
in einer solchen Situation?
Viele Forumsmitglieder und auch ich sind überzeugt davon, dass durch das „auftanken“ der Vitamintanks ein Suchtdruck nicht entsteht. Tatsächlich darf ich behaupten, dass ich bislang nie Suchtdruck hatte. Ich erlebe Situationen, wo mir bewusst ist, dass ich zu früheren Zeiten getrunken hätte. Dabei empfinde
ich jedoch keine Wehmut, im Gegenteil. Ich bin happy, dass es nicht mehr so ist. Wenn Situationen für mich undurchsichtig werden, ich mich nicht wohlfühle, verlasse ich sie. Niemand muss aushalten.
Einen „Notfallkoffer“ habe ich allerdings bei mir zu Hause, für den Fall, dass doch einmal ein besonderer Umstand entsteht. Und es gibt keinen Alkohol bei mir zu Hause. Damit minimiert sich die Gefahr eines Rückfalls um ein Vielfaches.
Sie haben sich beruflich neu orientiert, sich als Coach und Yoga-Lehrerin selbstständig gemacht.
Sehen Sie diese Entwicklung als eine positive Folge Ihrer Erkrankung?
Absolut! Ohne meine Erlebnisse wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Auch wenn es sich merkwürdig
anhört: Ich bereue nichts. All das, was ich jetzt tun darf, hat zu 100 Prozent mit mir und meinem Leben zu tun, ob als Yoga-Lehrerin oder als Coach mit den Themen Stress, Schlaf und Sucht. Ich darf dazu beitragen, dass meine Klienten ihren Alltag mit etwas anderen Augen sehen und wir erarbeiten gemeinsam Veränderungen. Besonders der Yoga hat viel bei mir bewirkt. Der Gedanke, dass
die Ursprungstexte über 2000 Jahre alt sind und in ihrer Bedeutung gerade frisch aus der Buchdruckerei kommen könnten, hat mich sehr früh beeindruckt. Dass ich mal selbst unterrichten würde, stand für
mich überhaupt nicht zur Debatte. Aber das Lernen geht immer weiter. Ich bin dankbar für diese Entwicklung.
Was raten Sie Menschen, die zwar wissen, dass sie einen problematischen Alkoholkonsum
pflegen, daran aber nachhaltig bislang nichts ändern (können)?
Ich kann keinem Süchtigen etwas raten. Der Wunsch nach Hilfe muss aus jedem selbst wachsen. Sich selbst einzugestehen, ein Alkoholproblem zu haben, ist eine große Hürde. Hilfe zu benötigen ebenfalls. Bei den meisten entsteht erst Handlungsdruck, wenn der Schmerz groß ist: Gesundheitliche Probleme, Schwierigkeiten im Beruf oder in der Familie, wenn Konsequenzen drohen. Es gibt viele Anlaufstellen und ich weiß, dass der Gang zum Arzt, einer Suchtberatungsstelle oder auch Selbsthilfegruppe eine wahnsinnig große Hürde sein kann, verbunden mit Emotionen wie Scham und Angst. Mit jemanden zu
reden, der die eigene Situation versteht und Unterstützung bieten kann, hilft sehr.
Woher nehmen Sie den Mut? Haben Sie Ihre Offenheit je bereut?
Ich bin ja nicht raus in die Welt und habe gerufen „Guck mal, ich bin alkoholkrank“. Das war ein Prozess. Mit meiner ersten Therapie bin ich nicht hausieren gegangen, nur der engste Freundeskreis und meine Familie wussten Bescheid. Beruflich gab man mir eher den Tipp, es für mich zu behalten, ich würde
„angreifbar“ werden. Mein späterer zukünftiger Arbeitgeber wusste von Anfang an Bescheid, das würde ich heute immer wieder so handhaben.
Die Entscheidung, meine Erkrankung „öffentlich“ zu machen, entstand im Vorfeld einer Fernsehdokumentation: Im Forum von „Alkohol adé“ gab es eine Frage nach Protagonisten, sie sollten weiblich sein, das war die einzige Voraussetzung. Ich wurde angesprochen, und da es die Option der Anonymität gab, war ich sofort einverstanden. Bis zur Umsetzung vergingen mehrere Monate, in denen bei mir gefühlt ein gewaltiges Chaos eintrat. Die Frage, wie es überhaupt mit mir weitergeht, wie sich meine private Situation rund um die Demenzerkrankung meiner Mutter entwickeln sollte, was beruflich geschehen würde, ließ immer mehr den Gedanken aufploppen „Was wäre wenn…?“
Meine Entscheidung, mit Gesicht und vollem Namen in der Doku zu erscheinen, ist erst knapp vier Wochen
vor Drehbeginn gefallen. Vor dem Sendetermin im März 2021 war ich mega-aufgeregt. Ich hatte das Gefühl, jeder, der mich ansieht, stellt sich die Frage: Hat sie wirklich getrunken? Vorab bekam ich die ersten Rückmeldungen, denn die Doku war – und ist bis heute – in der Mediathek von N3 zu finden oder auch bei YouTube. Viele Menschen haben mich beglückwünscht, mir eigene Geschichten erzählt, sich mir offenbart. Ich weiß, dass manche Personen auch negativ sprechen. Mich tröstet, dass diejenigen, die am lautesten aufschreien, meist durch mich einen Spiegel vorgehalten bekommen haben und von sich ablenken wollen. Sucht macht keine Unterschiede, ob Bankdirektor, Arzt, Krankenschwester, Fabrikant, Friseur. Ich habe in den Kliniken, in der Nachsorge oder auch im Forum die unterschiedlichsten
Menschen kennengelernt.
Oft ist es der Wunsch zu entspannen, mal abzuschalten, Druck abzulassen, der Menschen veranlasst, Alkohol zu trinken. Zu behaupten, Sucht existiere nicht in bestimmten „Kreisen“ ist fatal. Es gibt genügend
Zeugnisse von Chirurgen oder Piloten und anderen „Hochleistern“, die alkoholisiert oder mit welchem Suchtmittel auch immer ihren Job gemacht haben.
Ich behaupte, 85 Prozentder deutschen Bevölkerung sind süchtig. Wenn wir alle Süchte zusammenbringen, von Nikotin, Cannabis, Kokain, die künstlichen Drogen wie Stimmungsaufheller et cetera, Kaufsucht, Sexsucht, Sport, Handy, Ess- oder Magersucht, Zucker, Kaffee dann lässt es sich gut nachvollziehen.
Meiner Meinung nach ist es ein Ausbruchsversuch aus der Realität, die uns überfordert.
Ich möchte anderen Mut machen,zu sich zu stehen, Hilfe anzunehmen. Es gibt Wege aus der Sucht.
Haben Sie so etwas wie eine Lebensphilosophie und wenn ja, wie lautete sie mit Alkohol und wie lautet sie jetzt?
1) „Du wirst alt wie eine Kuh und lernst immer noch dazu“: Für mich die Ansage, immer neugierig zu bleiben. Das geht immer, obwohl es während meiner depressiven Phase schwierig war, über den Tellerrand hinwegzugucken.
2) „Beten scheef hett Gott leev“: Wir sind nicht perfekt! Nichtsum uns herum ist es. Der Wahn, es sein zu wollen macht uns krank. Für mich war und ist dieser Spruch die Absolution, es nicht sein zu müssen.
3) „Wo ein Wille, da ein Weg“: Nicht aufgeben, weitermachen oder weitersuchen nach Lösungen und wenn etwas zwar funktioniert und sich noch nicht gut anfühlt, den Satz wieder von vorn lesen.
Zur Person
- Sandra Fricke ist 50 Jahre alt und lebt in Bremervörde. Bis 2006 führte sie mit ihren Eltern das
traditionsreiche Familienunternehmen Möbel Fricke.
- Vor dem Einstieg in die Firma absolvierte
sie in Köln ein Fachschulstudium BWL. Nach 2006 war sie mit einer Unternehmensberatung
acht Jahre selbstständig.
- Ende 2014 wechselte Fricke zur Unternehmensgruppe Thomas, war „Sales Support/
Schulungsleitung“ bei „Lattoflex“. - Im Online-Forum „Alkohol adé“
ist Fricke mit vielen von Alkoholmissbrauch
Betroffenen im
Austausch.
Dieser Artikel erschien am 16. Januar 2023 in der Bremervörder Zeitung